Die „Pandemie der Ungeimpften“ hat begonnen. Diese Nachricht können Sie heute, 07.09.2021, dem Kölner Stadt-Anzeiger entnehmen. Und zwar im Aufmacher auf der Titelseite. Unter der Überschrift „Uniklinik befürchtet Überlastung“. Und in diesem, tatsächlich durchaus auch sachlichen Artikel spricht ein namentlich ungenannter Ministeriumssprecher des Landes NRW darüber, dass die Pandemie längst zur „Pandemie der Ungeimpften“ geworden sei.
Sprache ist ein zweischneidiges Schwert. Und manchmal lagern sich Bedeutungsebenen an, die allein der Grammatik geschuldet zu sein scheinen. Denn selbstverständlich meint der namenlose Ministeriumssprecher nur, dass derzeit die Ungeimpften den deutlich größeren Teil der Menschen stellen, die am oder mit dem Coronavirus erkrankt sind. Nebenbei: Ist es Ihnen auch schon aufgefallen? Wir reden weniger über diejenigen, die am oder mit dem Coronavirus gestorben sind. Aber sicher ist: Auch sie sind gemeint, wenn der Ministeriumssprecher von einer „Pandemie der Ungeimpften“ spricht. Ungeimpft gestorben.
Die zweite Schneid-Seite des Schwertes mit Namen Grammatik: Die „Pandemie der Ungeimpften“ kommt in der Gestalt des Genitivus subjectivus daher. Wahrscheinlich verstehen das nur noch Lateinlehrer alter Schule. Macht aber nichts, wird gleich trotzdem klar: Die Lateinlehrer nämlich mussten früher sieben verschiedene Genitive auseinanderhalten können. Das heißt: So viele Zweideutigkeiten, oder eben auch Zweischneidigkeiten, kann der Genitiv verstecken. Wir haben’s ja heute nicht mehr so mit der Grammatik. Auf keinen Fall mit der Differenzierung der Fälle. Deswegen ziehe ich auch nur noch den Genitivus Possessivus aus dem Lehrbuch.
Und jetzt: „Die Pandemie der Ungeimpften“ kommt in Gestalt des Genitivus subjektivus daher. Und bedeutet dann wohl in diesem Fall, dass die Ungeimpften selbst die pandemische Erscheinung sind. Dann wären sie selbst der Schrecken und müssten sich dazu noch explosiv vermehren. Fürchterliche Vorstellung. Das kann der Ministeriumssprecher keineswegs so gemeint haben. Hier liegt eindeutig eine Verwechslung vor – und nahe: Da wir die Ungeimpften als Subjekt begreifen und da der Genitivus subjectivus einer der häufigsten Genitive ist, assoziieren wir genau so. Ich gehe mal davon aus, dass der ungenannte Ministeriumssprecher diese Assoziation gerne – und nicht nur billigend – in Kauf genommen hat.
Richtig ist natürlich der Genitivus possessivus. Er beschreibt, wem etwas gehört oder zu wem etwas gehört. Die von mir konsultierte Grammatik-Seite wählt hier das schöne Beispiel vom Schwert des Gladiators. Genitivus possessivus. Die Grammatik des Ministeriumsprechers wäre auch possessiv. Subjektiv geht hier gar nicht, denn auch, wenn der Mann seine Grammatik beherrscht: In Fleisch und Blut wird sie ihm nicht übergangen sein. Nicht so zweischneidig, wie er spricht.