Manchmal steht in einem Text mehr zwischen als in den Zeilen. Wenn alles, was ein Text sagen will, zwischen den Zeilen steht und diese zwischenzeiligen Infos auch noch auf Übereinkunft zwischen Sender und Empfänger beruhen, spricht man von Steganographie. Das können Journalisten nun schlechterdings nicht leisten, sie sind der Öffentlichkeit verpflichtet, nicht dem Geheimnis. Und wenn wir alle wissen, welche Sprache zwischen den Zeilen gesprochen wird, ist das Geheimnis ja futsch. Außerdem: Wir leben ja keineswegs in einer Welt der Geheimniskrämerei. Coronazahlen, -daten, -infos: Alles offen. Jeder hat Zugang.
Uneindeutiger wird’s mit der Kommunikation, wenn der Sender zwischen den Zeilen Infos rüberbringt – und der Empfänger nicht weiß, ob das Absicht, Zufall oder Versehen ist. Beispiel: Daniel Steiger schreibt am 02.09.2022 in der Südwestpresse:
„Die Thermometer klettern nicht mehr auf 35 Grad, immer mehr Bundesländer kehren aus den Sommerferien zurück ... langsam aber sicher kommen wir ans Ende des Sommers. Der Herbst steht vor der Tür.“
Keinerlei Neuigkeit, nur ein szenischer Einstieg, der uns Leser auf etwas vorbereiten soll. Dass der Herbst kommt, wissen wir. Dass die Temperaturen sinken, merken wir. Die Nachricht oder Nichtnachricht besteht jetzt in dem, was wir wissen, dort aber nicht steht: Die Coronazahlen sinken. Sagt uns Steiger aber nicht. Zumindest nicht hier. Irgendwo am Ende des Artikels kommt er mit den Corona-Zahlen vom RKI rüber, die die meisten Leser auch schon so ungefähr kennen:
So schnell geht man ein Bündnis ein! Da hat uns Daniel Steiger doch glatt auf seine Seite gezogen. Er weiß es, wir wissen es, es ist nur noch nicht offiziell und niemand würde es verlautbaren: Wenn die Coronazahlen jetzt sinken, könnte es doch sein, dass der uns angedrohte Corona-Herbst ausfällt oder flachfällt. Nicht einfach so. Aber vielleicht läuft er langsam aber sicher aus. So langsam und sicher, wie wir in Steigers erstem Satz ans Ende des Sommers kommen.