NACHRICHTENPORTAL

Kritisches und Sprachliches: Coronare Ungereimtheiten

Wir drehen den Spieß jetzt um: Ich schreibe Ihnen was – und Sie müssen danach selbst weiterrecherchieren. Weil’s für mich einfacher ist und weil ich Ihnen sonst weder Wahrheit noch Wahrhaftigkeit garantieren kann. Einzig und allein meine Redlichkeit kann ich Ihnen beteuern. Recherche-Anfänge kann ich Ihnen auch noch liefern. Thematisch geht’s um Impfquoten, Herden, Schutz und Immunität. Also natürlich wieder um Corona. Und um meinen Eindruck: Das Thema ist so verwirrend wie vielfältig – und wer da noch den Überblick behält, der kann sich nur täuschen. Deswegen hier ein kleiner Leitfaden mit sprachideologischem Ansatz. Einfach deswegen, weil ich von Haus aus Germanistin bin – und wir der Wahrheit nur noch auf die Spur kommen, wenn wir der Sprache nicht mehr trauen.

Die Fakten: Nicht erst seit Beginn der coronaren Pandemie begreifen wir uns als Herde. Und die Hirten (von denen ich manchmal den Eindruck habe, dass sie auch nicht klüger sind als die Schafe) predigten zu Beginn der Pandemie die Herdenimmunität von 70 Prozent. Zu diesem Ziel gab es mehrere erklärte mögliche und unmögliche Wege: Die Durchseuchung erschien unethisch, der Impfzwang irgendwie auch. Also muss, so das Ziel in 2020, irgendwie anders eine Impfquote von 70 Prozent erreicht werden.

Nun ist noch immer von der Herdenimmunität die Rede, von 70 Prozent aber nicht mehr. Wie hoch die Impfquote ist, ist vollkommen unsicher, sicher aber ist, dass sie höher liegt, als das RKI noch bis vor fünf Tagen uns vorgerechnet hat. Das RKI rechnet seit kurzem neu und kommt, je nach Formierung der der Zahl zugrundeliegenden Herdengruppe, auf bis zu über 80 Prozent.

Tagesschau, 07.10.2021:
https://www.tagesschau.de/inland/corona-rki-impfquote-101.html

Tagesschau, 09.10.2021:
https://www.tagesschau.de/inland/kritik-wieler-101.html

Wochenlang zuvor diskutierten die Medien die Frage, ob eine Herdenimmunität überhaupt noch zu erreichen ist. Nun, auf Grundlage der neuen RKI-Schätzungen, tun sie das Gleiche.

So weit die laufende Berichterstattung. Nun zur Recherche:

Wo anfangen? Sind wir denn überhaupt eine Herde? Das ist doch die eigentlich die allererste Frage – und für die Recherche dazu kann ich Ihnen einen wunderbaren Artikel liefern, der mir vor Freude das Herz höher schlagen ließ. Wirklich! Gisela Zifonun war Universitätsprofessorin für Germanistische Linguistik in Mannheim – und schreibt nun aus dem Ruhestand heraus Zwischenrufe. Germanistischer Art – aber lassen Sie sich davon nicht abhalten: Unsere Sprache ist ja verräterisch ohne Ende und Frau Zifonun schreibt wunderbar entlarvend. Schon 2020, noch ist kein sicherer Impfstoff in Sicht, darüber, dass wir keine Herde sind.

Sie finden den Aufsatz vom 26.08.2020 auf dem Publikationsserver des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache als PDF:
https://ids-pub.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/docId/10045

Damit hätten Sie für Ihre eigene Recherche nun zumindest einen größeren Freiheitsgrad erreicht: Sie sind tatsächlich kein Schaf und auch kein Kamel – und Sie müssen weder dem Hirten noch dem Leithammel folgen!

Nächster Punkt: Die Herdenimmunität, von der wir laufend hören und lesen, dass wir sie in Deutschland nicht erreichen werden, selbst wenn wir das Soll, von dem wir nichts mehr hören und lesen, längst übererfüllt haben: Wir werden sie tatsächlich nicht erreichen. Aus einem ganz einfachen Grund: Sie ist, zumindest bei Corona, quasi unerreichbar. Zumindest mit den derzeitigen Impfstoffen. Auch Geimpfte können das Virus weitergeben, deswegen wird ja der Mund-Nasen-Schutz nicht aufgegeben. Ganz ohne biologische und medizinische Fachkenntnisse sei hier spekuliert: Eine Impfung, die die Weitergabe des Virus nicht verhindern kann, kann keine Herdenimmunität erreichen. Wobei: Sie müssen, bevor Sie irgendwas begreifen, lernen, den Herdenschutz von der Herdenimmunität zu unterscheiden. Ich sag ja: Recherchieren Sie am besten selbst, es ist unübersichtlich. Dass aber der Herdenschutz bei Covid-19 nicht zu erreichen ist, können Sie bei Wikipedia nachlesen, Stichwort Herdenschutz, Unterpunkt Probleme:
https://de.wikipedia.org/wiki/Herdenschutz_(Epidemiologie)#COVID-19-Pandemie

Nebenfrage: Warum hat Lothar Wieler seine Rechenübungen nach der Bundestagswahl aufgenommen? Die B.Z. – und nicht nur sie – hält nun seinen Stuhl für wackelig.
B.Z. 09.10.2021:
https://www.bz-berlin.de/deutschland/nach-zahlen-fehler-bei-impfquote-rki-chef-wieler-wackelt
Oder ist es etwa andersherum: Wenn Wieler bereits vor der Veröffentlichung seiner Rechnereien von der Wackeligkeit seines Stuhles wusste, was ja naheliegt, ist die Veröffentlichung seiner Rechnereien der erste konsequente Schritt – und vielleicht auch die erste Maßnahme einer dringend notwendigen Gegenoffensive? Aber wie gesagt: Das mit der Wahrheit wird zunehmend schwerer.

Nebenthema: Der Mund-Nasen-Schutz. Der Komiker Dieter Nuhr, auch der Sprache auf der Spur, hat Ende 2020 die Frage aufgeworfen, ob der Mund-Nasen-Schutz etwa einen Mund und mehrere Nasen schützen soll. Gisela Zifonun, eben schon zitierte Linguistin, antwortet auch hier per Zwischenruf. Zwar hilft der Ihnen bei der Recherche zum Thema Impfquote und Herdenschutz an keiner Stelle weiter, dafür können Sie aber auf vergnügliche Art und Weise Ihre Grammatikkenntnisse erweitern. Wie gesagt: Sprache ist verräterisch – und es schadet nie, wenn man mal was versteht:
https://ids-pub.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/docId/10254

Ganz anderes Thema: Sollten Sie Vergnügen gefunden haben an den Sprachbetrachtungen von Gisela Zifonun, könnte ich Ihnen noch einen weiteren  wunderbaren Text empfehlen. Diesmal zum Thema Gendersprache. Ein Plädoyer für den Mieter. Oder den Radfahrer. Der trotz grammatikalisch männlicher Endung biologisch auch weiblich sein kann. Garantiert kein pandemischer Artikel aber ein frontaler Angriff auf den Duden, der da der Gästin* und der Bösewichtin** neuerdings einen lexikalischen Heimatort gibt.
Augsburger Allgemeine, 15.02.2021:
https://www.augsburger-allgemeine.de/kultur/Gendersprache-Wie-der-Duden-das-maennliche-Geschlecht-veraendert-id59125351.html

* Der Duden weist hingegen darauf hin, dass die Gästin bei den Brüdern Grimm noch sprachlich präsent war, dann aber verlorenging.
https://www.duden.de/sprachwissen/sprachratgeber/Die-Bezeichnung-G%C3%A4stin-und-die-Gebr%C3%BCder-Grimm

** Tatsächlich stellt der Duden dem Bösewicht die Bösewichtin gegenüber, schummelt dann aber beim Erzbösewicht. Eine Erzbösewichtin zumindest kennt der Duden nicht. (Sollten wir Frauen etwa doch der bessere Teil der Menschheit sein?)

Zweifelhafte Hilfsangebote: Vom Umgangston im Inte...
Von Vischen und anderen Rechtschreibeübungen

Ähnliche Beiträge

 

Kommentare

Derzeit gibt es keine Kommentare. Schreibe den ersten Kommentar!
Bereits registriert? Hier einloggen
Gäste
Dienstag, 16. April 2024

KBV Praxisnachrichten

PraxisNachrichten

Robert-Koch-Institut

Dies ist der RSS Feed des Robert Koch-Instituts zum Epidemiologisches Bulletin.

Neueste Kommentare

Mechthild Eissing Angriffe auf Daten im Krankenhaus - die neuesten Fälle
05. März 2024
Beim Hackerangriff auf die Klinik in Lippstadt sind nicht nur Daten verschlüsselt worden, sondern au...
Mechthild Eissing Dengue-Fieber - Notstand in Peru
01. März 2024
Auch in Brasilien, ZEIT online, 01.03.2024: https://www.zeit.de/news/2024-03/01/rasanter-anstieg-bei...
Mechthild Eissing Auf den Hund gekommen - Tierisches und Therapeutisches aus Krankenhäusern
20. Februar 2024
Auch Therapiehund Ide ist im Krankenhaus im Einsatz. Der NDR berichtet am 19.02.2024: https://www.nd...

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.