Von der heilenden Kraft des vierten Fingers
„,Das hättest du dir doch an den fünf Fingern abzählen können, dass ein so dünner Ast nicht trägt,’ meinte mein Freund lachend, als ich vom Baum fiel.“
Wahrscheinlich können auch Sie diesen Satz sofort seiner Herkunft zuordnen. Diese fehlende Lebens- und Wirklichkeitsnähe ist ja ausgesprochen verräterisch. Wir bewegen uns hier ganz gewiss irgendwo im Bereich der Sprachpädagogik.
Entnommen ist der Satz einer Liste von Redewendungen zum Thema Finger – und es gibt dort noch viel mehr dieser wunderschönen, gestelzten oder auch gedrechselten Beispielsätze:
https://www.medienwerkstatt-online.de/lws_wissen/vorlagen/showcard.php?id=10745
Die fünf Finger abzählen hingegen, können auch Sie wahrscheinlich seit Kindertagen: „Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen, der hebt sie auf, der bringt sie nach Haus – und der klitzekleine, der isst sie alle auf.“
Aber eigentlich will ich mich hier nur einem einzigen Finger zuwenden: Es ist der Ringfinger. Auch Goldfinger genannt. Oder eben, und darum geht’s: der Arztfinger. Wie er zu diesem Namen gekommen ist? Dazu gibt es in alten und neuen Zeitungen alte und neue Nachrichten und Theorien, die sich auch manchmal ganz gut ergänzen. Fangen wir in der Gegenwart an. Bei Wikipedia wird der Arztfinger, profan zusammengefasst, so erklärt: Eigentlich trug einstens der Arzt mit dem Mittelfinger die Salben auf. Da nun aber der Mittelfinger schon seinerzeit ein Stinkefinger war, wurden die ärztlichen Aufgaben dem Ringfinger – oder dem Goldfinger – übertragen. Wikipedia kann auch mit dieser Theorie auf ein Arztbüchlein von 1658 zurückverweisen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Ringfinger
Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch beschreibt den Arztfinger – oder Goldfinger – ähnlich, nämlich als den Finger, mit dem der Arzt den Puls fühlt:
https://fwb-online.de/lemma/arzetfinger.s.0m
Die Kölnische Zeitung vom 02.04.1899 – und zwar die Beilage zur Sonntagszeitung – geht in einem langen Artikel der Bedeutung der Finger im germanischen Volksglauben nach. Wobei hier noch germanisch, indogermanisch, indisch und allemannisch ein ziemlich ungeordnetes Feld voller ursprünglicher Glaubensüberzeugungen ist, die dem Redakteur an dieser Stelle vor allem dazu dienen, den Leser zu unterhalten. Die Bedeutung des Ringfingers als Arztfinger leitet der Autor dann aber von den alten Griechen ab: „Bei den Griechen war er dem Sonnengott heilig, und heilkräftiger Zauber sollte ihm innewohnen. Er hieß deshalb auch der Arztfinger oder kurzweg der Arzt.“ Diese Rolle weiß die Kölnische Zeitung dann mit einem Kinderliedchen zu belegen, dass dem Pflaumenlied sehr ähnlich ist. Und in diesem Liedchen ist es der vierte Finger, also der Arzt, der das Kindchen, das ins Wasser gefallen war, nach seiner Rettung durch die anderen Finger, nun zu Bette trägt. (Die Finger im germanischen Volksglauben, 1. Spalte und folgende)
https://zeitpunkt.nrw/ulbbn/periodical/zoom/7543461
Eine neuzeitliche, wenig mythologische Geschichte aber, in der der Arztfinger nun wieder zum Goldfinger wird, finden Sie bei Thieme. Hier ist allerdings nicht vom vierten Finger, mit dem die Ärzte ihre Patienten behandeln, die Rede, sondern von einem ihrer eigenen Finger, meist die Zeigefinger ihrer nicht dominanten Hand. Diese Finger gingen nämlich in den 90er-Jahren vielen Ärzten auf recht unglückliche oder gar unschickliche Weise abhanden. Glücklicherweise waren aber diese Ärzte alle gut versichert. Das fiel auch den Versicherungen irgendwann auf – und nachdem sie ihre Entschädigungssummen halbiert hatten, sank auch die Zahl der Unfälle mit verlorenen Zeigefinger ganz erheblich.
Nachlesen können Sie diese Geschichte bei Thieme, 2009:
https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/abstract/10.1055/s-0029-1243072
Gar nicht versichert hingegen war der Komponist Robert Schumann. Als er noch Pianist hatte werden wollen, hatte er es versucht, seine Ringfinger durch das Anhängen von Gewichten zu stärken. Der Versuch aber misslang, den Ringfingern konnte danach wahrscheinlich auch kein Arzt mehr helfen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Ringfinger
Dass diese Geschichte so schon 1883 erzählt und geschrieben wurde, belegt das „Echo des Siebengebirges“. Wobei dem Autor das Unglück Schumanns nur eine Einleitung wert ist. Danach berichtet er an einer Operation am Ringfinger eines Klavierschülers in Philadelphia. Nach dieser Operation soll der Patient den Ringfinger statt nur um ein Viertel Zoll um ein und ein Viertel Zoll haben anheben können – und auch später habe der Finger nicht an Kraft eingebüßt (05.05.1883, rechte Spalte „Alles fürs Klavier“):
https://zeitpunkt.nrw/ulbbn/periodical/zoom/4068227
Dass ich mir diese Geschichte nicht aus den Fingern gesogen habe, beweist Ricarda Nathalie Baldauf. Sie kann zwar nicht das Gerät beschreiben, mit dem Schumann seine Fingertechnik verbessern wollte. Aber sie zitiert sein Tagebuch und sie weiß von seinen vergeblichen Bemühungen, den Schaden zu lindern. Der Artikel unter der Überschrift „Schlimmer Finger“ ist vom 10.09.2017:
https://www.niusic.de/artikel/schumann-fingerverletzung-uebemaschine
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