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Vegetabilische Milch: eine kleine Produktgeschichte

Sie schmeckt eigentümlich – und doch verbessert sie die Qualität des Tees und des Kaffees. So ist einem Reisebericht zu entnehmen, der am 04.08.1855 im Neuwieder Intelligenz- und Kreisblatt zu lesen war. Die Rede ist von einer ganz besonderen Milch, und der Reisende, nur beim Nachnamen Wallace genannt, ist Engländer. Die Milch aber kommt aus der Rinde eines Baumes – und sie hat noch einen ganz anderen Nutzen: Sie leimt. So sei dem Reisenden dort eine Geige gezeigt worden, verleimt mit dieser Milch. Allerdings: Eine Zukunft als Leim sah Wallace für diese Milch nicht: Er ist wasserlöslich.
https://zeitpunkt.nrw/ulbbn/periodical/zoom/2822477

1870 taugt die Entdeckung des amerikanischen Milchbaums in der Essener Zeitung immer noch zu einer Meldung, die fürs Staunen gut sein soll. Hier erfahren wir auch, dass Wallace entlang des Amazonas gereist ist und der Milchbaum in Südamerika zu finden ist. „Die Milch, welche bei uns vermittelst der Kuh fabriciert wird, kommt dort also durch eine Baumart zur Welt. Dabei ist diese vegetabilische Milch nahrhafter, als die thierische und verdickt so zähe, daß man damit ganz schön leimen kann.“
https://zeitpunkt.nrw/ulbbn/periodical/zoom/13346029

Der Reisende lässt sich schnell als Alfred Russel Wallace identifizieren – und wer mehr über seine Person, seine Reise und den Milchbaum wissen will, kann beim Projekt Gutenberg den Bericht dieser Reise lesen:
https://www.gutenberg.org/files/53177/53177-h/53177-h.htm?utm_source=chatgpt.com

Der Milchbaum findet bei Wikipedia seine Beschreibung als „Amerikanischer Kuhbaum“ – oder auf Latein als Brosimum utile:
https://de.wikipedia.org/wiki/Amerikanischer_Kuhbaum

Alfred Russel Wallaces Lebenslauf finden Sie hier:
https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Russel_Wallace

Das Schlüsselwort für diese exotische Milch ist „vegetabilisch“ und es wird auch in den nächsten Jahrzehnten von Interesse bleiben. Während den „Vegetarianern“, deren Lehren und Ziele in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Zeitungen durchweg verspottet werden – und dennoch oder gerade deswegen von großem Interesse sind, hat es die vegetabilische Milch leichter: Denn gebraucht wird Säuglingsnahrung. Nicht jede Frau, die nicht stillen kann, kann sich eine Amme leisten. Auch Magenkranken wird zu einem Ersatz geraten. Und so findet „Dr. Lahmann’s vegetabile Milch“ zuerst Eingang auf den Anzeigenseiten – und dann in die Empfehlungen zur Kinder- und Säuglingsernährung. Die Herforder Zeitung für Stadt und Land berichtet am 30.03.1894 von einem Vortrag beim neugegründeten „Naturheilverein“.

„Zur Ernährung empfahl er, wenn die natürliche Nahrung nicht gereicht werden könne, abgekochte Sahne mit 4, später entsprechend weniger Teilen Wasser oder Lahmannsche vegetabilische Milch.“
https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/23733582

Heinrich Lahmann ist Jahrgang 1860, seine Profession: Naturheilkundler. Nach dem Studium in Leipzig gründete Lahmann ein Sanatorium, dass europaweit bekannt wurde – und entwickelte mehrere pflanzliche Lebensmittel wie zum Beispiel die „vegetabilische Milch“. Sie war pulverförmig, wurde hergestellt aus Getreide und Nüssen und vertrieben für Magenkranke, Säuglinge und für alle, die Kuhmilch nicht vertrugen.

1905 ist vermutlich das erfolgreichste Jahr für Lahmanns Milch. Es ist zugleich das Jahr, in dem er stirbt. Und das Jahr in dem die Inhaber der Kölner Chocoladen- und Zuckerwarenfabrik Hewel & Veithen vor Gericht stehen, weil sie „aus faulen und verschimmelten Haselnüssen sowie anderen schmutzigen Bestandteilen vegetabilische Milch und Nährsalze gemeinsam wissentlich hergestellt und verkauft“ haben sollen. Ein Arbeiter schildert den Produktionsprozess und die viel zu langen Lagerzeiten der verwendeten Lebensmittel, der Kreisarzt hat in den ebenfalls gepanschten Nährsalzen 4,9 Prozent Salz nachgewiesen. Manche Zeitungen benennen die Nährsalze als Lahmannsche Nährsalze, den Produktnamen der vegetabilischen Milch nennt kein Artikel – doch vieles spricht dafür, dass die in Köln dergestalt produzierte Milch auch unter Lahmanns Namen vertrieben worden war. Der Kölner Lokal-Anzeiger berichtet am 14.11.1905, der Bericht über das Urteil ging aber flächendeckend durch die Zeitungslandschaft. Der Firmeninhaber musste 500 Mark zahlen, sein Direktor 100 Mark.
https://zeitpunkt.nrw/ulbbn/periodical/zoom/291568

Infos über die Kölner Firma Hewel & Veithen gibt’s beim Landschaftsverband Rheinland:https://rheinische-geschichte.lvr.de/Projekte/Schokoladenkarte/hewel--veithen/DE-2086/lido/64ba440d2b4257.74651831

Infos über Heinrich Lahmann gibt’s bei Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Lahmann
und eine Lobrede zu seinem 50. Geburtstag, den er selbst nicht mehr erlebt hat, findet sich am 30.03.1910 in der Wittener Volks-Zeitung:
https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/10578073

1912 kommt eine ganz andere „vegetabilische Milch“ in den Blick: „Die Japaner haben schon seit längerer Zeit einen guten und billigen Ersatz für die Kuh in Form einer kleinen Bohne gefunden“, schreibt am 09.08.1912 das Linden-Dahlhauser Blatt aus Hattingen. Klar, die Rede ist von der Sojabohne. Hier im Artikel als „Sonjabohne“ gepriesen. Die kondensierte Milch „ist von gelblicher Farbe, hat einen sehr angenehmen Geschmack und ist von guter Kuhmilch kaum zu unterscheiden“.
https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/16354171

Im Dritten Reich dann erregt die Sojabohne als „Märchenbohne“ Aufmerksamkeit. Zitiert wird im Lenneper Kreisblatt am 04.02.1937 die „englische Reuter-Agentur, die diese Nachricht aus der Mandschurei“ gebracht habe. Danach haben japanische Ingenieure „jetzt“ das Mittel gefunden, aus der Sojabohne Milch herzustellen.
https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/16354171?query=%22Vegetabilische%20Milch%22!
Beeindruckt sind die Autoren von der Vielseitigkeit der Bohne: „Menschliches Nahrungsmittel, Oel-Rohstoff, Ersatz für Speck, Butter, Gummi, Petroleum, Hilfsmittel für die Herstellung von Farben, Schellack, Lack, Glyzerin, wasserdichte Stoffe, Leim, Tunkenwürzen, Kleister, Mehl, Kandiszucker, Quark, Zelluloid, medizinische Artikel, wobei die Rückstände noch entweder als Tierfutter oder als künstliches Düngemittel verwendet werden können.“

Dass die Sojamilch eine neue Erfindung der Japaner sei, mag eine der vielen Propagandageschichten sein, die diese Zeit hervorgebracht hat. In den Zeitungen jedenfalls wurde die Sojamilch gepriesen, seit es mit der Lahmannschen Milch abwärts ging. Und auch, dass sie aus dem „Reich der Mitte“ kommt, war bekannt. Die Gelsenkirchener Zeitung preist am 07.10.1907 die Vorzüge der Sojamilch:
https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/16354171
und auf der Weltausstellung 1912 in Brüssel hatten die Europäer ebenfalls Bekanntschaft mit der Sojamilch gemacht:
https://zeitpunkt.nrw/ulbbn/periodical/zoom/5846880

Mehr noch: Die Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung wies am 23.04.1912 darauf hin, dass Sojamilch auch in Deutschland produziert werde: „Nach den Ergebnissen von Anbauversuchen, die Prof. Dr. Wein in Weihenstephan mit Sojabohnen ausgeführt hat, läßt sich diese Pflanze mit bestem Erfolge auch in Deutschland kultivieren. Für den Anbau sind aber auch ganz besonders unsere afrikanischen Kolonien geeignet.“
https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/17363155

Einen deutschen Produzenten, der schon 1913 Sojamilch produziert habe, nennt Wikipedia: Die Frankfurter Soyama-Werke:
https://de.wikipedia.org/wiki/Sojamilch

Und auch in alten Zeitungen wird man fündig. Die Geseker Zeitung titelt am 25.06.1914: „Die maschinelle Kuh“. Diese Kuh sei in Frankfurt-West zur Welt gekommen – aber den modernen Menschen könne so etwas ja nicht wirklich überraschen. Die Rede ist von den Soyama-Werken. „Durch eine Erfindung ist es jetzt gelungen, aus der Soyabohne, deren Eiweißkörper mit denen der Kuhmilch außerordentliche Aehnlichkeit haben, milch- und rahmartige Produkte herzustellen. Das Aussehen dieser Erzeugnisse erinnert fast an die entsprechenden Kuhprodukte, sie übertreffen sie aber noch durch ihren höheren Nährgehalt und ihre völlige Freiheit an Krankheitskeimen.“

Der Lobgesang über die Milch der maschinellen Kuh geht noch eine ganze Weile weiter, wer mehr lesen möchte:
https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/16682083

Zurück ins Sanatorium von Heinrich Lahmann: Es lag nicht nur in dem Stadtteil Dresdens, der noch heute Weißer Hirsch heißt, der weiße Hirsch war auch Namensbestandteil des Sanatoriums. Das aus diesem Viertel ein gehobenes Villenviertel wurde, dürfte auch Lahmann zu verdanken sein. Der Name aber geht eindeutig auf eine Gaststätte aus dem 18. Jahrhundert zurück. Das Foto ist bei Wikipedia entnommen:
https://nachrichten.mednet.de/index.php?view=entry&layout=preview&uid=2633.11397

Nun ist der weiße Hirsch von besonderer Schönheit – und von besonderer Reinheit. Diese Assoziation kommt aus der nordischen Mythologie. Und ganz gewiss ist es so platt wie albern, die Brücke von der weißen vegetabilischen Milch bis hin zum weißen Hirsch bauen zu wollen. Aber wenn Sie in meine Albernheit einwilligen wollen: Es gibt in Deutschland mehr als 100 Apotheken, die den Weißen Hirsch im Namen tragen. Schreibt Heinrich Pasternak 2013 auf einer Seite, in der er einer sauerländischen Apotheke dieses Namens hinterherforscht. Und auch er springt von der Reinheit zum Heil und zum Hirsch – und wieder zurück:
https://www.freienohler.de/index.php/freienohl/rund-um-freienohl/17-rund-um-freienohl/329-wieso-heisst-die-apotheke-hirsch-apotheke.html?utm_source=chatgpt.com

Wir springen jetzt noch weiter zurück ins Jahr 1841, in die Stadt Aachener Zeitung vom 6. September. Hier nämlich wird ein Buch gepriesen mit dem Titel „Der Milcharzt“. Und Sie erfahren: Die Milch heilt „Ausschläge, Auszehrung, Blutflüsse, verhärtete Brüste, Durchfall, Engbrüstigkeit, Epilepsie, Fieber, Gicht, Hämorrhoiden, Hysterie, Katarrh, Krämpfe, Lungensucht, Lustseuche, Nervenschwäche, Rheumatismus sc.“
https://zeitpunkt.nrw/ulbbn/periodical/zoom/6300895

Und nichts anderes als Heilung und Linderung wollte Lahmann den Patienten seines Sanatoriums und später auch allen anderen mit seiner vegetabilischen, weißen Milch aus dem Sanatorium Weißer Hirsch zugutekommen lassen.

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