Morgenandacht bei t-online.de: Der "Tagesanbruch" des Florian Harms
Tagesanbruch heißt seine Rubrik. „Was heute wichtig ist“, soll darin benannt werden. Meinung, Stellungnahme, Zusammenfassung, Überblick. All das ist das Ziel. Kritischer Journalismus ist sein Schlüsselwort.
So weit, so gut. Eine Stellungnahme jeden Tag kann ja auch das Leben des Lesers in Zeiten wie den unsrigen, in denen keiner Zeit hat, erleichtern. Und wenn etwas den kritischen Journalisten in Deutschland wirklich oft mangelt, dann ist es die Fähigkeit, Position zu beziehen. Neutral lässt sich kein Kommentar verfassen.
Sein Plan also eigentlich wunderbar, wenn denn auch vielleicht ein bisschen vermessen. Jeden Tag die gesamte Weltlage bewerten – das ist nicht einmal für Fachleute leicht. Aber Florian Harms ist Journalist und Chefredakteur. Denen fällt das mit dem Bewerten schon mal leichter. Harms benimmt sich sprachlich, als sei er selbst schon Institution. Das macht das Lesen seiner Stellungnahmen von Anfang an etwas unvergnüglich. Denn wer schon Recht hat, bevor man begriffen hat, wovon er schreibt, vergrämt seine Leser, da er ihnen das Vergnügen und die Aufgabe abnimmt, ihm hinterherzudenken. Oder vorauszusehen. Der Dialog zwischen Autor und Leser, der im Kopf des Lesers stattfindet – für den bleibt kein Platz. Das, was Harms meint, meint er für den Leser gleich mit. So bleibt dem Leser abwechselnd die Luft und die Spucke weg.
Die Institution, für die Florian Harms schreibt ist t-online.de. Also Ströer. Es gab Zeiten, da gab es pauschale Zweifel, dass Werbung und Journalismus voneinander unbeeinflusst wie Geschwister im gleichen Haus wohnen können. Diesen Zweifel konnten wir löblicherweise alle hinter uns lassen – und nun kann Florian Harms sich selbst als Chefredakteur eines kritischen Realismus rühmen und als Verkündiger der Nation gebärden.
Heute (20.05..) im Angebot: „Die Corona-Krise ist eine riesige Chance“
https://www.t-online.de/nachrichten/id_87911504/tagesanbruch-die-corona-krise-ist-eine-riesige-chance.html
5:37 Uhr online gestellt. Wir sind beeindruckt. Sofern wir da schon aufgestanden sind. Dann beginnt der Artikel: „Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen“.
Ja. Das stimmt. Und googelt man die Redewendung, stellt man fest, dass Florian Harms gar nicht der erste Mensch ist, der das Außergewöhnliche in den Zusammenhang mit dem Corona-Virus bringt. Wahlweise kann man auch das Besondere ins sprachliche Programm nehmen. Das fordert dann zwangsläufig besondere Maßnahmen.
Will sagen: Den ersten Satz hätte Florian Harms sich sparen können. Vielleicht hätte er sich doch noch mal im Bett umdrehen sollen.
Was folgt, ist eine Sammlung außergewöhnlicher bis dann doch wieder gewöhnlicher politischer Maßnahmen. Parteipolitisch zugeordnet. Journalistisch gewiss sauber recherchiert. Und mit einer bewertenden Stellungnahme. So, wie sein „Tagesanbruch“ es täglich von ihm fordert.
„Wir erleben außergewöhnliche Zeiten, aber das Taktieren hat schon längst wieder Einzug in die Politik gehalten. Wo es zu Errungenschaften führt und wo zu großen Fehlern, werden wir erst in einigen Monaten beurteilen können.“ (Hervorhebungen vom Autor)
Zweifelsohne – diese Erkenntnis ist so richtig wie alt. Und es ist eine Zeile, für die mich früher jeder Chefredakteur drohend angeguckt hätte. Kommentare, die auf „wir werden sehen“ enden, sind keine Kommentare, hatte es geheißen. Dann eben muss man warten und den Mund aufmachen, wenn was zu sehen ist.
Aber Harms ist Journalist mit Aufklärerseele: „Ich bin überzeugt, dass unabhängiger, kritischer und konstruktiver Journalismus unverzichtbar für unsere Gesellschaft ist. Nie zuvor hat sich unsere Welt so schnell verändert wie jetzt. Deshalb braucht es gewissenhafte Journalisten, die nicht nur über die Ereignisse berichten, sondern sie auch differenziert einordnen können.“
Dieses Zitat von ihm finden Sie in seiner Selbstdarstellung:
https://www.t-online.de/florian-harms/id_86081096/index
Nun gut, vielleicht bin ich im Pauschalen hängengeblieben und das differenzierte Urteil des Florian Harms kommt noch in einigen Monaten. Er hat’s versprochen.
Also Weiterlesen. Denn eines macht der Journalist mit aufklärerischem Anspruch großartig: den großen Rundumschlag vor Tagesanbruch. Mit den deutschen Politikern sind wir gerade fertig und warten mit der Bewertung der Lage noch ein paar Monate ab. Dafür geht’s jetzt durch die ganze Welt – mit dem immer gleichen Ziel: China. Zuvor aber die Diagnose: Amerikas Weltmachtsposition ist im Wanken begriffen. Wird auch belegt. Fakten sind Harms’ Geschäft. Und da arbeitet er sauber.
Was nun folgt, ist aber das Geschäft mit der Angst und das alte Lied von der gelben Gefahr. Nur mit neuem Text: „Aber der Nachfolger steht schon in den Startlöchern: Weltmacht gesucht? Wir können schon wieder liefern! Durch die gesamte Corona-Krise hindurch haben die Chinesen zielstrebig ihre Führungsrolle ausgebaut.“ (Hervorhebungen vom Autor)
Beweise gefällig? Ja. Und ich habe wirklich keinen Zweifel. Alles Fakten. Differenziert bewertet. Dass das Virus seinen Siegeszug in China begonnen hat, schreibt Harms. Sachlich richtig. Man kann ihm nicht den Vorwurf machen, dass er hier mit Fake-News oder Verschwörungstheorien arbeitet. Weder Fledermaus noch Biolabor noch Schuppentier führt er ins Feld. Braucht er auch nicht. Denn das Themenfeld China ist auf t-online.de längst hinreichend beackert worden.
Zum Beispiel Lars Wienand, ebenfalls Redakteur bei t-online. Der Journalist hat seinem Chefredakteur gut vorgearbeitet. Schon im Februar. Zu einer Zeit, als die Fledermaus als Virus-Zwischenträger längst dem öffentlichen Zweifel ausgeliefert war. Wienand aber, der sich kokettierend vorstellt mit „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ https://www.t-online.de/lars-wienand/id_86119360/index, wusste am 17. Februar eines fast ganz genau: An der Fledermaustheorie könnte etwas dran sein. Aber anders als gedacht. Er hatte dafür auch Forscher im Rücken. Ein Labor in der Nähe des Marktes in Wuhan, forscht in tiefen Höhlen an Fledermausviren. Und dabei muss dann irgendwann irgendwer das Virus irgendwie auf den Markt getragen haben. Nein, nicht irgendwie – Wienand fächert genüsslich ein Arsenal von Möglichkeiten auf. Um seinen Artikel zu enden: Beweise gibt es nicht.
https://www.t-online.de/nachrichten/panorama/id_87347722/coronavirus-forscher-verdaechtigt-fledermaus-labor-neben-wuhan-fischmarkt.html
Zurück zum Chefredakteur. Harms bleibt nachprüfbar. Keine Frage. Und mit nachprüfbaren Fakten geht er seinem Auftrag nach: der sprachliche Angriff auf China und die Diskreditierung eines möglichen Griffs zur Weltmacht. Keine Frage, die Chinesen mit ihrer Art von Politik und Propaganda, Diktatur und Unterdrückung von Meinungen machen es ihm, dem die „Sprache mehr als ein Mittel zur Übermittlung von Information“ ist, leicht.
(https://www.t-online.de/florian-harms/id_86081096/index)
Was aber dem Leser immer noch fehlt, ist das differenzierte Urteil. Denn der kritische Journalist hat sich bis 5:37 Uhr so derartig in Rage geschrieben, dass kein Kommentar übrig bleibt, sondern nur eine Empfehlung. Und die ist dann wohl weniger an uns Leser gerichtet, als an die oben genannten deutschen Politiker, deren außergewöhnliche Maßnahmen wir erst in einigen Monaten bewerten können sollen. (China können wir aber jetzt schon bewerten, wenn wir Harms richtig interpretieren).
„Mit freundlichen Worten. Und eiskalten Taten“, möge man dem chinesischen Präsidenten Paroli bieten, endet seine Betrachtung, in der zwar viel kunstvolle Sprache zu finden war. Aber Differenzierung kaum.
https://www.t-online.de/nachrichten/id_87911504/tagesanbruch-die-corona-krise-ist-eine-riesige-chance.html
Noch ein paar freundliche Worte von Harms (fast) zum Schluss:
„Ach ja, und ich versuche, hinter (fast) jedem Schatten auch ein Licht zu finden. Ich glaube an das Gute im Menschen (zumindest in den meisten) und vor allem an die erlösende Kraft des Humors.“
https://www.t-online.de/florian-harms/id_86081096/index
Und ein paar biografische Hintergründe als krönender Abschluss: Harms ist Sohn eines Publizisten. Hat also den kritischen Journalismus zwar nicht mit der Muttermilch aufgesogen, aber gewissermaßen zuhause mit der Luft eingeatmet. An seinem Hang zum Glauben hat er sich mit dem Studium der Islamwissenschaften abgearbeitet. Sein Promotionsthema: Islamische Missionsgruppen im Internet.
https://de.wikipedia.org/wiki/Florian_Harms
Den Verdacht, dass ein rechtschaffener Prediger an ihm verloren gegangen ist, habe ich offenbar nicht allein. Der Stern rezensierte seinen jüngst erschienen Krimi „Versuchung“ zwar durchaus positiv. Gab den Lesern aber auch den Hinweis, dass der Autor zu salbungsvoller Langatmigkeit neige. Das Zitat finde ich leider nur noch bei Amazon:
https://www.amazon.de/Versuchung-Kriminalroman-Florian-Harms/dp/3710900573
Jetzt noch das Post Scriptum, und dann bin ich fertig.
Lieber Herr Harms,
ich bin möglicherweise nicht so umfassend informiert wie Sie – und wahrscheinlich auch nur manchmal eine gute Journalistin. Sonst eher so Durchschnitt. Deswegen freue ich mich immer, wenn mich jemand informiert. Über Sie ärgere ich mich aber seit Wochen: Sie haben die Informationen, die ich bräuchte. Ich kann sie auch kostenlos bei Ihnen lesen. Aber wir wissen ja alle: Kostenloser Journalismus, das kann nicht gehen. Also bezahle ich doch einen Preis. Und zwar in der Währung, die Sie mir ausgewählt haben. Das Erste, was man aus Ihren Texten liest, ist, was man glauben oder gar nachbeten soll.
Dann doch lieber wieder zurück zum deutschen, sachlichem Journalismus, dem die Meinung ein Gräuel ist.
Lieber Leser,
ich weise ausdrücklich daraufhin, dass mein Text rein emotional Informationen und Eindrücke zusammenstellt, wie ich sie mir zusammengesucht habe. Und das alles nur, um Ihnen das Bild aufzumalen, das ich mir vom Autor (und vom Portal t-online) gemacht habe. Dieses Bild gilt nur dem Autor. Nicht der Person. Im Gegenteil: Jeder, der glaubt, und sei es nur an das Gute im Menschen und an den Humor, ist mindestens Dialogpartner. Und ich glaube, ich könnte ganz problemlos den Dialog fortsetzen.
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