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Von Klägern und Richtern - oder: Muss man wirklich mit Impfvordränglern abrechnen?

Die Ersten werden die Letzten sein, so lernten wir in Anlehnung an’s Neue Testament, Matthäus 19,30, als Kinder, wenn sich die anderen vorgedrängelt hatten, wo auch immer es was zu holen gab. In der Kindheit gibt der Satz wenig Trost, eher schon ist er ein Satz für die Weisheit des Alters. Dort noch nicht angekommen, sorgt er beim Menschen durchschnittlicher Abgeklärtheit eher für heimliche Schadenfreude. Vor allem dann, wenn er sich als richtig erweist.

Bernd Wiegand ist Oberbürgmeister von Halle und hat sich im Januar vorgedrängelt. Beim Impfen. Im Januar war das noch ziemlich unklug und jetzt ist er des Amtes enthoben worden. Vorläufig. Schon am 7. Juni, aber jetzt wird’s erst bekannt. RND am 15.06.2021:
https://www.rnd.de/politik/beim-impfen-vorgedraengelt-halles-ob-wiegand-des-amtes-enthoben-BGAU6FZMFITWJ7D5Z6YCOTZ34U.html

Damit ist er ganz offensichtlich ein Fall für oben dargelegte Schadenfreude. Oder, auch wieder biblisch betrachtet: Er könnte sich als bestmöglicher Sündenbock erweisen.

Jetzt aber lieber pragmatisch als weise: „Tausende Impfbetrüger“ schrien und titelten die Medien im Mai. Und sie machten uns Hoffnungen auf Bußgelder und Strafen, die all den Bösen, also den anderen, also nicht uns, drohen würden. Das Ziel: Den Vordränglern sollte eine Ordnungswidrigkeit vorgeworfen werden können, die dann mit Bußgeld belegt werden kann. Aus der Ordnungswidrigkeit wurde nichts, weil man vermeiden wollte, dass Impfstoff vernichtet wird, aus Furcht davor, Ordnungwidrigkeiten zu begehen, wenn übrig gebliebener Impfstoff an Nicht-Priorisierte geimpft würde. Diese Weisheit lag beim Gesetzgeber schon im März vor und wurde im Portal evangelisch.de als Text des evangelischen Pressedienstes auf ganzer Web-Breite ausgerollt.

https://www.evangelisch.de/inhalte/183337/04-03-2021/keine-hohen-bussgelder-fuer-vordraengler-beim-impfen

Der Ruf nach der Ordnungswidrigkeit, die man dem schwarzen Schaf, also dem Impfvordrängler vorwerfen kann, steigerte sich medial bis ins Unsagbare oder Unsägliche und hat sich dann – wohl mit der Freigabe von Astrazeneca – von jetzt auf gleich erledigt. Auch die Berichterstattung über die bösen Impfdrängler flachte ab. Manchmal stellten manche Medien auch fest, dass es mit der Drängelei wohl doch nicht so wild gewesen sei. Es waren ja auch nur wenige. Prozentual gesehen.

Die Weisheit des Gesetzgebers, der Impfvordrängelei nicht unter Strafe stellen wollte, damit Impfstoff nicht in die Mülltonne kommt, ist einfach und schon fast nicht mehr zu übertreffen.

Trotz alledem wird jetzt gegen einen der Ersten der doch prozentual betrachtet nur wenigen Vordrängler wegen einer Straftat ermittelt. Nicht wegen einer Ordnungswidrigkeit, das ist ja nicht vorgesehen. Es sei zu Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von Impfstoffen gekommen, so der Vorwurf an den Hallensischen Oberbürgermeister. Das ist mehr als ordnungswidrig und wahrscheinlich als Vorwurf nicht auf Hinz und Kunz, die sich als priorisiert hervortun wollten, übertragbar.

Als Kinder war uns mit dem Sprichwort von den Ersten und den Letzten kaum geholfen. Doch sobald wir auch unser Eis am Stil, unsere Nikolaustüte oder unsere Belohnung bekommen hatte, hatten wir dem Übeltäter meist fast schon wieder verziehen. Zumindest bis zum nächsten Mal haben wir wieder zusammen gespielt, als ob nichts gewesen sei. Und wenn sich die Vordrängler dann wieder vorgedrängelt haben, waren wir gewachsen. Und entweder weise, denn der Klügere gibt nach. Oder stärker. Da passte dann auch schon mal die Faust auf’s Auge. Von Ordnungswidrigkeiten oder Straftaten aber hatten wir damals keine Ahnung.

Vielleicht ist das wirklich weise: Zu verzeihen und mit den anderen weiterzuspielen, als sei nichts gewesen. Zumindest bis zum nächsten Mal.

Die Sorge derer, die da meinen, nicht rechtzeitig was abzukriegen, die kennen wir doch alle. Und wer mit so großer Sorge belastet ist, ist wahrscheinlich schon mehr bestraft als wir, die wir uns gar nicht vordrängeln wollten. Zumindest beim Thema Impfdrängeln brauchen wir nicht wirklich noch einen Sündenbock. (Zumal es für diese Rolle tatsächlich eine Menge Bewerber mit größerer Bedeutung und Befugnis und mit größerer Schuld- oder Fehlerquote gäbe.)

Oder anders herum: Wo kämen wir hin, wenn wir mit jedem Fehler abrechnen wollten? Selbst wenn es nur bei den prozentual wenigen Impfvordränglern wäre. Und selbst wenn wir nur mit den Politikern unter ihnen richten würden?

Verzeihen wäre doch großartig. Wenigstens den Impfvordränglern. Denn auch in einem Rechtsstaat muss man doch nicht immer Recht haben. Es reicht manchmal auch aus, zu wissen, dass man es kriegen könnte.

Und über die Frage, welchen Politikern wir was verzeihen wollen oder überhaupt dürfen, müsste man noch mal grundlegend nachdenken. Impfvordrängelei scheint mir da nicht das größte Problem in der Pandemie gewesen zu sein.

Der Teufel im Detail kann auch digital - Hakendes ...
Spahnischer Pressespiegel, 10.06.2021

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