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Von der Geburt der Gesundheit - Kleine sprachliche Exkursion ins Grimmsche Wörterbuch

Der Patient ist leidend. Das ist eindeutig – und wenn es nicht der Wahrheit entspricht, dann entspricht es aber wenigstens der Sprache. Und zwar der lateinischen. Vom Lateinischen kommt der Patient ins Französische und Italienische und von da aus in die deutsche Sprache, so erfahre ich aus dem Grimmschen Wörterbuch. Der Patient steht aber immer auch in Beziehung – und zwar zum Arzt oder Pfleger. Andernfalls ist er der Kranke. Als Patient, also als Leidender, muss er über eine Eigenschaft verfügen, die demselben lateinischen Wort entspricht: patience. Auf Deutsch: Geduld. Spottend könnte man weiterspinnen: Der Patient muss geduldig den Arzt erleiden.

Befreien wir den Patienten von seiner Beziehung zum Arzt, sind wir beim Kranken. Den haben, auch sprachlich betrachtet, die Verfasser des Grimmschen Wörterbuches (die Brüder selbst kamen zeitlebens nur bis zur „Frucht“) schon fürs 11. Jahrhundert im Rheinfränkischen gefunden. Sie vermuten ihn ebenso in anderen Regionen. Fürs Mittelhochdeutsche finden die beiden jedoch ganz andere Bedeutungen für das Wort krank. Und zwar ist der Kranke hier „frisch, munter, keck“. Zweifeln ist erlaubt, denn aus der Grimmschen Aufzählung ist nicht ganz ersichtlich, ob diese munteren Kranken nicht ganz dem englischen Sprachraum angehören. De facto aber ist der wirklich Kranke zu dieser Zeit eher siech. Der sprachlich Kranke ist lediglich kraftlos und schwach. Da der Sieche ebenfalls kraftlos und schwach angetroffen wird, verwundert es überhaupt nicht, dass spätestens im Neuhochdeutschen der Kranke nicht mehr siech, sondern nur noch krank ist.

Das Siechtum ist uns trotzdem erhalten geblieben: Es hat uns die Seuche hinterlassen, die im Mittelhochdeutschen noch keineswegs epidemisch auftreten musste. Die Seuche ist damals das, was uns heute die Krankheit ist. Die Schwindsucht zeugt davon – sprachlich betrachtet.

Von hier aus ist es nur ein kurzer Sprung zur Sucht – und siehe da: Zur Klärung des Sachverhaltes nimmt das Grimmsche Wörterbuch wieder das Lateinische zu Hilfe: morbus, passio, cupiditas. Tante Google übersetzt: Krankheit, Hingabe, Verlangen. Aber lassen Sie sich von Google nicht täuschen! Das Lateinische bedeutet immer auch mehr. Der Pons weiß das noch: Leiden und Martyrium sind passio, und unter Cupiditas finden wir mehr als das Verlangen. Hier wohnen auch Begierde, Lust und Leidenschaft. Nur um die Bedeutungsbandbreite zu skizzieren. Immerhin suchen wir nach der sprachlichen Bedeutung des Wortes Sucht.

Und ehrlich gesagt: Die Grimmschen suchen auch. Und zwar wacker. Doch dieser und jener Beweis will ihnen nicht ins Buch. Dass die Sucht aber vom Siechtum herrührt, daran haben sie keinen wirklichen Zweifel.

Die Herkunft des Wortes siech hinwiederum scheint etymologisch mit Fragezeichen verbunden zu sein. Die Grimms drängen zwar dem Leser gleich die Bedeutung von krank auf, verheimlichen aber auch nicht, dass der sieche zuerst sehr schwach war.

Hier beißt sich allmählich die Katze in den Schwanz, und vielleicht müssen wir die Suche an dieser Stelle zugunsten einer Erkenntnis abbrechen: Die Krankheit ist ein relativ neuer Zustand, auch wenn der Kranke schon lange ein Patient ist. Aber lange, lange Zeit eben war der Kranke vor allem eines: schwach.

Die Gegenprobe ist leicht gemacht. Schlagen Sie bei den Grimmschen mal das Wort „gesund“ nach. Da sehen Sie dann die Etymologen tüchtig zappeln. Es scheint, als ob das Wort gesund vor allem im Rechts- und Medizinwesen eine Rolle spielt. Einfacher noch wird es bei der „Gesundheit“. Diese Form der Substantivierung des Adjektivs, daran haben die Grimms keinen Zweifel, hat sich in der Schriftsprache erst seit Luther durchgesetzt. Und ja, richtig, auch beim Wort „gesund“ hatten die Sprachwissenschaftler auf Bibel und Römer zurückgreifen müssen.

Kurz: Die Gesundheit ist möglicherweise eine ziemlich moderne Angelegenheit – und bis sie „erfunden“ war, hat die Krankheit nicht nur sprachlich so einige Bedeutungsverschiebungen erfahren. Zu der Erkenntnis waren aber die Verfasser des Grimmschen Wörterbuches auch schon gekommen. Unter dem Stichwort „Gesundheit“ findet sich hier folgende Erläuterung:

  • die negative abgrenzung gegen die krankheit scheint beim substantiv noch mehr als beim adjectiv die älteren belege zu denn die krankheit tritt dem volksbewusztsein viel früher in anschaulicher verkörperung entgegen und formt sich von hier aus dem persönlichen gegensatz: dem volke gilt die krankheit nicht als die störung der funktionen des körpers, nicht als das pathologische produkt regelwidriger vorgänge im organismus. ihm erscheint vielmehr die krankheit als ein fremdes, persönliches, als etwas zu dem übrigen leben hinzugekommenes, als ein feindliches, ja dämonisches. Fossel volksmedizin und mediz. aberglaube in Steiermark 1886, 9. vgl. Grimm deutsche myth. 2, 110;

Wer sich selbst auf die Suche nach der Herkunft der Bedeutung so mancher Wörter machen will, kommt hier ins Grimmsche Wörterbuch:
https://woerterbuchnetz.de/?sigle=DWB#0

Forschung: Wenn's mit der Ethik schwierig wird
Aus alten Zeitungen: Die unglückliche Geschichte e...

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