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Über die erste Babyklappe der Welt - und über Irrtümer der Gegenwart

Claudia Becker blickt am 24.04.2023 in der „Welt“ zurück auf die „weltweit erste Babyklappe“, auf die Kritik von damals, auf die Befürchtungen um die „Schäden“, die den abgelegten und abgegebene Kindern zugefügt würden – und auf das weitere Leben einiger dieser Findelkinder.
https://www.welt.de/iconist/partnerschaft/article244957090/Kasten-der-Hoffnung-Warum-die-weltweit-erste-Babyklappe-so-heftig-kritisiert-wurde.html

Wer sich an die Diskussion von damals erinnert, weiß, dass sie nur schwer in wenigen Stichworten zusammenzufassen ist. Vieles mag auch aus dem Rückblick von 22 Jahren, in denen das Leben von Kindern so gerettet wurde, nicht einmal mehr nachvollziehbar scheinen. Und so mancher Erinnerung mag es vielleicht so vorkommen, als dass die Gründung der Babyklappe weit mehr als 22 Jahre zurückliegt.

Tatsächlich ist die Diskussion um die Babyklappe auch deutlich älter als gut zwei Jahrzehnte. Die Babyklappe am Berliner Waldfriede-Krankenhaus war nämlich keinesfalls die erste Babyklappe der Welt. Schon vor 252 Jahren wurde in Dänemark, am Hebammenhaus auf Schloss Amalienburg in Kopenhagen, ein Kasten mit Matratze und Glocke eingerichtet, der dazu dienen sollte, Findelkinder abzulegen. Und es ist nicht einmal gesichert, ob das die erste Babyklappe der Welt war. Sicher ist: Bekannt geworden ist sie über ihre Zeit hinaus nicht. Und so gut wie sicher ist: Ihr Erfinder war ein Arzt – und fühlte sich den Ideen der Aufklärung verpflichtet-

Die Nachricht über diese Einrichtung findet sich in der „Kaiserl. Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung zu Köln“ vom 12.04.1771. Die Meldungen aus „Coppenhagen vom 30. Merz“ sind zu lesen auf den Seiten 2 und 3. Einsehbar ist die Zeitung von damals im Projekt „zeit.punktNRW“, das alte Zeitungen ab 1743 online stellt und durchsuchbar macht.
https://zeitpunkt.nrw/ulbbn/periodical/zoom/7438471

Der Landesvater, von dem in dieser Nachricht die Rede ist, ist Christian VII., König von Dänemark und Norwegen. Allerdings war er 1771 längst erkrankt, die Spekulationen reichen von Schizophrenie bis Asperger, und sein Leibarzt Johann Friedrich Struensee hatte die Regierungsgeschäfte quasi übernommen. Wahrscheinlich war Struensee auch der Vater des Kindes, mit dem die Ehefrau des Königs, Caroline Mathilde von Großbritannien, gerade schwanger war. Der König, der auch öffentlich dazu stand, dass er seiner Ehefrau wenig zugetan war, hat Tochter Luise Auguste, die am 7. Juli zur Welt kam, als eigene anerkannt – und Struensee am Tag ihrer Taufe zum Lehnsgrafen befördert. Offiziell wurde die Nachricht über die wahre Vaterschaft aber nie.
Infos aus Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Christian_VII.

Zurück zur Nachricht von der Babyklappe: Die Kaiserliche Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung zu Köln berichtet in ihren Meldungen aus „Coppenhagen“ zuerst über diese „hoffnungsvollen Umstände“ der Königin. Nachdem anschließend von personellen Umbesetzungen am Hofe die Rede ist, folgt als nächste Meldung der Bericht über diese gänzlich neue Einrichtung. (Wer hier auf Komma- und Zeichensetzung achtet, ahnt, warum das Komma noch heute vielen Schreibern Schwierigkeiten macht.)

Unter anderen landesväterlichen Entschließungen, welche der König genommen hat, ist für itzo anzuführen, daß die Aufseher bei dem königl. Erziehungs-Geiste, damit so wohl die Ermordung der jungen Kinder, als das Hinlegen derselben auf die Gassen und in die Häuser, verhütet werde, eine solche Einrichtung auf dem freyen Hebammenhause, aussen auf Amalienburg, in dem ersten Fache bey der Thüre haben veranstalten müssen, daß daselbst die Mütter, die sich ihrer Kinder entledigen wollen, selbige in einen mit Matratzen wohl versehenen Kasten legen können, welcher auf Anziehung einer Glocke, kann eingezogen werden, für welche Kinder hiernächst weiter gesorget wird. Ueber dieser Einrichtung stehet auf einem weißen marmornen Steine mit vergoldeten Buchstaben: “Unglücklicher Kinder Errettung. „

Die Vermutung, dass die Erfindung eines solchen Kastens auf die Initiative Struensees zurückgeht, liegt ziemlich nahe, wenn man sich seine Laufbahn bei Hofe anschaut. Die Karriere des Leibarztes und Grafen hatte übrigens in Altona begonnen: Im Alter von 20 Jahren war er dort als Armenarzt tätig, bevor er elf Jahre später König Christian VII. als Leibarzt auf Europatournee begleitete. Wikipedia beschreibt ihn als Aufklärer, der aus dem dänischen Königreich den fortschrittlichsten Staat seiner Zeit gemacht habe. Das allerdings hat ihm am Ende wohl seinen Kopf gekostet: Am 28. April 1772 wurde Johann Friedrich Struensee hingerichtet.
https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Friedrich_Struensee

Am 4. Februar 1772 berichtet der „Bönnischer Sitten-, Staats- und Geschichtslehrer“ in §11 aus „Koppenhagen, den 21. Wintermondes“: „Seit des Aufstandes vom 17ten ist eben nichts besonders, das merkwürdig war, vorgegangen.“ Im Gegenteil: Vollkommene Ruhe, friedliebende Soldaten, voller Freude wieder in den Dienst aufgenommen. Manche von ihnen so eilfertig, dass sie nicht einmal Kriegskleidung trugen, als sie ihren Wachdienst antraten. Die eigentliche Nachricht folgt nach langem Gedankenstrich: „Sobald der Graf Struensee aus seinem Zimmer kam, band man ihm die Hände und auf diese Weise ward er unter Bedeckung einiger Grenadirer nach der Festung geführt.“
https://zeitpunkt.nrw/ulbbn/periodical/zoom/2501302?query=struensee

Am 28. April 1772 schließlich wird Struensee vor den Toren der Stadt geköpft, gevierteilt und aufs Rad geflochten, weil er sich zum Despoten aufgezwungen habe. Über Verhör und Urteil berichten die Zeitungen seiner Zeit zwar gern und ausführlich, aber auch gern ohne Inhalt. Auf Missfallen im Nachhinein ist nicht nur Struensees Politik gestoßen, auch seine medizinischen Methoden und Projekte waren seinen Zeitgenossen am Ende nicht mehr geheuer. Und noch heute sind Historiker uneins, wie sie das politische und medizinische Handeln Struensees zu bewerten haben.

Das „Münsterische Intelligenzblatt“, das eigentlich wohlwollend oder zurückhaltend über Struensee berichtet, zitiert am 28. Februar 1772 die „Aachensche Zeitung“: „Struensee ist unwidersprechlich überzeugt, daß er durch seine Medicinische Kunst ein Project ausführen wollen, welches von so abscheulicher Eigenschaft ist, daß man es nur einem jeden zu errathen lassen muß.“
https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/zoom/4379714?query=struensee

Wohlgefälliger kann man wohl den Fantasien seiner Leser nicht die Tür und Tor öffnen, oder? Ich meinerseits entlasse Sie mit diesem Zitat gern in die Ratlosigkeit. Auch bezüglich der Frage, wie lange die Babyklappe in Kopenhagen wohl Bestand gehabt haben mag.

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Kommentare 1

Mechthild Eissing am Freitag, 19. Mai 2023 17:31

Ich hatte es ja vermutet: Natürlich gab es noch sehr viel früher Babyklappen. Eine hat Papst Innozenz III. gegen Ende des 12. Jahrhunderts initiiert. Sie ist noch heute zu besichtigen. Wikipedia berichtet - auch über andere Babyklappen früherer Jahrhunderte:
https://de.wikipedia.org/wiki/Babyklappe

Ich hatte es ja vermutet: Natürlich gab es noch sehr viel früher Babyklappen. Eine hat Papst Innozenz III. gegen Ende des 12. Jahrhunderts initiiert. Sie ist noch heute zu besichtigen. Wikipedia berichtet - auch über andere Babyklappen früherer Jahrhunderte: https://de.wikipedia.org/wiki/Babyklappe
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