Die Pandemie als "gesundheitlicher Kriegsfall"? Eine vokabulare Spurensuche
Die Grünen reden von „Machtmissbrauch“, Bundesgesundheitsministerin Nina Warken relativiert und verweist auf die damalige „besondere Lage“. Die Rede ist vom Maskenstreit im Haushaltsausschuss und im Gesundheitsausschuss. Und Jens Spahn, dessen Corona-Masken-Deals unter Kritik stehen? Spahn redet von Krieg. Die Tagesschau zitiert ihn am 25.06.2025 so: „Es war der gesundheitliche Kriegsfall und wir hatten, um im Bild zu bleiben, keine Gewehre, keine Munition, keinen Schutz.“
https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/spahn-verteidigung-maskendeals-104.html
Der Rest der Debatte: eigentlich vorhersehbar. Warken (CDU wie Spahn), sagt, Sudhoffs (SPD) Bericht weise Mängel auf in der Arbeitsweise und Dokumentation. Warkens Gegner sagen , sie muss das sagen als Parteigenossin von Spahn. "Maskenstreit", so formuliert die Tagesschau im Titel. Maskenball würde vielleicht auch wieder ganz gut passen. Oder wollen wir es mit dem Marionettentheater versuchen? Dann müssten wir nun allerdings auch den oder die Strippenzieher suchen.
Beginnen wir auf unserer Suche mit dem „Kriegsfall“, von dem Jens Spahn redet. Denn schließlich traut sich nicht jeder, dieses Bild im Zusammenhang mit der Pandemie in den Mund zu nehmen.
Die „Münchner Ärztlichen Anzeigen“ haben während der Pandemie – das genaue Datum kann ich nirgends finden – den Vergleich mit dem Krieg in die Soziologie eingeordnet. Tatsächlich zitieren sie ihn aus Politiker-Mund. Und ziehen dann die Parallelen dort, wo sie auch sind:
https://www.aerztliche-anzeigen.de/leitartikel/corona-aus-sicht-der-soziologie-alles-wie-im-krieg
Im Cicero war schon am 29.10.2020 vom „Corona-Krieg gegen die Kultur“ die Rede. Der Gastbeitrag ist von Karl-Heinz Paqué (FDP), Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung. Noch bezeichnender als die Überschrift ist der letzte Satz des Artikels: „Dieser Krieg ist einer Kulturnation nicht würdig.“
https://www.cicero.de/kultur/lockdown-theater-kino-kultur-schliessung
Soso. Wir müssen also annehmen, dass andere Kriege einer Kulturnation würdig sind. Denn eine solche Annahme ist ja die Voraussetzung dafür, einen solchen Satz formulieren zu können. Wer noch tiefer in diesen Satz hineinliest, kann hier auch die Formulierung einer Sehnsucht finden.
Schon am 02.04.2020 forderte Marcel Vondermaßen in einer Stellungnahme, der Pandemie nicht mit Kriegsvokabular zu begegnen. Er trug die Bilder der Journalisten und Politiker zusammen, nahm Maß und kam zu dem Ergebnis: Mit diesen Worten und Bildern kommen wir nicht weiter. Dr. Marcel Vondermaßen ist Wissenschaftlicher Koordinator und stellv. Geschäftsführer des IZEW (Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften).
https://uni-tuebingen.de/es/forschung/zentren-und-institute/internationales-zentrum-fuer-ethik-in-den-wissenschaften/publikationen/bedenkzeiten-bibliothek/weitere-blog-artikel/warum-wir-keinen-krieg-gegen-das-corona-virus-fuehren/
Vondermaßens Aufsatz ist redlich – und ein wenig kurzsichtig. Aber vielleicht konnte man 2020 die Sehnsucht nach dem Krieg weder sehen noch begreifen. Manifest war sie ja nur im Vokabular der Corona-Pandemisten.
Vondermaßen liegt mit seinem Essay zeitlich kurz nach der Ansprache der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Er zitiert sie nicht. Wohl auch, weil Merkel vorsichtiger formuliert. Sie nimmt den Krieg nicht als Parallele, sondern als zeitlichen Maßstab:
„Deswegen lassen Sie mich sagen: Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/fernsehansprache-von-bundeskanzlerin-angela-merkel-1732134
Aber: Lesen Sie diesen Satz zweimal, dreimal, viermal: Der Zweite Weltkrieg ist also die nächstgroße Herausforderung gewesen, bei der es auf unser „gemeinsames solidarisches Handeln“ ankam. Merkel redet hier nicht vom Wiederaufbau – und wenn ich sie wörtlich nehme, redet sie vom solidarischen Handeln im Zweiten Weltkrieg. Ja, auch damals, im Krieg, war Solidarität wichtig. Nur: Die Standpunkte sind, wenn wir von der Pandemie aus so zurückblicken, unklar. Mit Sicherheit will Merkel ja nicht Solidarität mit den Handelnden des Dritten Reiches einfordern. Hätte sie darauf verwiesen, wie sehr Solidarität und gemeinsames Handeln beim Wiederaufbau vonnöten und von Nutzen waren, sie wäre sauberer aus dem Vergleich herausgekommen. So what? Warum bemüht Angela Merkel in der ersten Fernsehansprache von Seiten der Regierung das Bild vom Zweiten Weltkrieg?
Zwischen 25 und 30 Millionen Menschen sollen, laut Wikipedia, diese Fernsehansprache, die als historisch gewertet wird, gesehen haben:
https://de.wikipedia.org/wiki/Fernsehansprache_von_Angela_Merkel_anl%C3%A4sslich_der_COVID-19-Pandemie
Zurück zu Spahn: Er redet vom „gesundheitlichen Kriegsfall“. Und ist damit einerseits bemüht, das Bild zu relativieren. Andererseits aber bemüht, das Bild vom Krieg aufrechtzuerhalten. Auch aus wohlverstandenem eigenem Interesse: Die Rechtfertigung seiner Deals ist so schwer, dass möglicherweise nur noch der „Kriegsfall“ ihm helfen kann. Doch: Das Bild ist schief. Was, beim Stab des Äskulaps, ist denn bitte der „gesundheitliche Kriegsfall“? Der Kriegsfall, nehmen wir das Wort doch wörtlich, ist ein Wenn-Dann-Ereignis. Wir benutzen das Wort wie: im Falle eines Krieges. Nun liegt der (Kriegs-)Fall, von dem Jens Spahn redet, ja in der Vergangenheit. Also war er ein Krieg oder er war keiner. Ein Wenn-Dann-Ereignis war es nicht. Allerdings: Es wäre schwer bis schwer zu kritisieren, wenn Jens Spahn, oder auch irgendein anderer, im Nachhinein von Corona als Krieg spräche. Zumal der oder die Krieg(e) nach Corona ja fast wie gerufen kam(en).
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