Plakativ ist sie ja, diese Werbung: „Senioren über 60 erhalten gratis Hörgerät“. Auch wenn ich noch nicht so lange über 60 bin: Ich kann noch ganz gut lesen – und denken. Und blöde Fragen stellen kann ich auch: Ist doch doof, wenn die Senioren unter 60 ihr Hörgerät nicht gratis erhalten, oder?
Nein, das ist nicht witzig. Ich weiß. Es gibt – per definitionem – keine Senioren unter 60. Und die Zeile „Senioren erhalten gratis Hörgerät“ wäre doch kürzer, knapper und einprägsamer, oder? So aber ärgere ich mich beim Lesen doppelt. Über den sprachlichen Unfug. Den könnten wir noch als marginal abtun. Vor allem aber ärgere ich mich über die Klassifizierung: Ich bin über 60 Jahre alt und brauche keinen Stempel. Schon gar nicht bezüglich meines Alters.
Die Frage, ob ich Mann bin oder Frau, lässt sich leicht beantworten. Und ließe sie sich nicht leicht beantworten, so stünden mir mittlerweile Nischen, Zwischenräume, Definitionsmengen und auch Fragezeichen aller Art zur Verfügung.
Wie alt ich bin, diese Frage lässt sich auch leicht beantworten. Doch diese Frage stellt niemand wirklich. Das tut man nicht. Über das eigene Alter spricht man so wenig wie über das eigene Geld. (Über das Alter und das Geld anderer ist das anders, zumindest wenn die Anderen abwesend sind). Aber ich werde lesend ständig auf mein Alter hingewiesen. Nicht direkt, aber immer dann, wenn zum Beispiel die Statistik mich sprachlich einordnen will. Dann nämlich gehöre ich zu den Senioren. Ungefragt. Oder eben wenn es um den Kauf von Hörgeräten, Treppenliften, Inkontinenzeinlagen, Gehhilfen, Rollatoren, Einkaufstrolleys etc. geht. Dann gehöre ich nämlich zur Zielgruppe. Und den Marketingexperten, die wir ganz eindeutig der Gruppe der Junioren zuordnen können und müssen, fällt nichts anderes ein, als mich und alle anderen Menschen, die älter sind als 60 Jahre, zu „seniorisieren“.
Bei Wikipedia hat jemand diese „Seniorisierung“ schön beschrieben: Sie begann in den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts und hat, so die Autoren, einen euphemistischen Hintergrund. Klar: Die Alten mussten weg, sprachlich gesehen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Senior
Man verknüpfte also die Wörter mit der Ablehnung, die man selbst den Alten gerne entgegengebracht hätte oder auch hat. Und das Wort hatte zu verschwinden. Niemand war mehr alt. Das wäre beleidigend gewesen. Stattdessen bevölkerten nun Senioren die Sprache und die Freizeitgesellschaft. Als hätte sich die Welt geändert. Nun plötzlich konnten die Senioren wieder gehen und fliegen, feiern und lieben. So wie es die Alten offenbar nicht gekonnt hatten. Und so wurde alles Alte umbenannt.
Erinnert sich noch jemand: Früher gab es noch das Altersheim. Aber wer dieses Wort noch kennt, ist wahrscheinlich selbst längst ein Senior.
Nun: Seit den 70er-Jahren hat sich die Welt doch wieder tüchtig weitergedreht, ein halbes Jahrhundert ist in der Zwischenzeit rum. Die Freizeitgesellschaft, die damals damit begann, den Senioren das Leben zu vergnüglichen, sucht mittlerweile nach neuen Sinngebungen auch für junge Altersgruppen, die über die reine Beschäftigung und das nackte Abenteuer hinausgehen. Und da diese Freizeitgesellschaft sich nicht wirklich als Wert an sich etablieren konnte, widerfährt den Senioren heute nun das, was damals den Alten widerfuhr. Sie werden milde belächelt. Auch wenn sie noch so aktiv und agil sind. Im Gegensatz zu damals aber sind sie eine tolle – und finanzkräftige – Zielgruppe.
Ich liste Ihnen hier mal die Wörter auf, die der Duden um den Senior herum versammelt: Seniorengymnastik, Seniorenklasse, Seniorenreise, Seniorentreff, Seniorenkarte, Seniorenpass, Seniorenausweis, Seniorensport, Seniorenstudium, Seniorenkolleg, Seniorentelefon, Seniorenteller, Seniorenwohnheim, Seniorenhaus, Seniorenwohnpark, seniorengerecht, Seniorenalter, Seniorenberatung, Seniorenheim, Seniorenkonvent.
Der Junior, nur um auf die nicht vorhandenen Parallelen zu verweisen, kommt im Duden als A-, B-, C-, D-, E-, F-, G-Junior vor, als Mannschaft, als Nationalmannschaft, als Weltmeister. Und Juniorenreisen – die haben wir sprachlich auch eingeplant.
Wie wäre es denn, wenn wir künftig die Senioren, rein sprachlich, wieder zum alten Eisen legen? Ich bin, sprachlich, gerne die ältere Frau. Lieber zumindest als die Seniorin über 60. Und der 90-jährige Nachbar ist vielleicht stolz, wenn wir ihn – mit Fug und Recht – wieder als alten Mann bezeichnen. Das ist er ja auch. Und als solcher kann er reisen, wohnen, sich Hörgeräte und altersgerechte Hilfsmittel aller Art kaufen.
Den Senior hingegen lassen wir dort, wo er sprachgeschichtlich herkommt: Er ist der Ältere einer Gruppe, eines Verbandes, einer Organisation. Und gehört an die Plätze, wo die Junioren auch zu finden sind.