Fünf Jahre Corona – und wir erinnern, mahnen, fordern, erkennen. Medial, kolossal, journalistisch, mal witzig, mal düster, mal mit Blick auf die Zukunft, mal mit Blick in die Vergangenheit. Mal mit Blick auf die Politiker, mal mit Blick auf die Journalisten.
Fünf Jahre Corona. Vielleicht ist es übertrieben zu behaupten, dass wir dieses Jubiläum feiern. Ja, es ist übertrieben. Aber: Wir zelebrieren es. Wir zelebrieren die Erinnerung. Sprachlich bis hinunter auf die Ebene des Weißt-du-noch-damals. Wir repetieren die Forderung nach Aufarbeitung.
Und ja: Das ist gar nicht schlimm. Das ist richtig so. Denn Corona hat unseren Blick geprägt. Der SWR hat ein schönes Archivfoto gefunden: Die Statue der Imperia in Konstanz, die auf ihren Händen die weltliche und die geistliche Macht trägt. Und vor dem Mund trägt sie nun eine Schutzmaske. Es muss ein Scherzbold gewesen sein, der ihr damals in der Zeit zwischen vor fünf Jahren und danach zu nahegekommen ist. (Artikel vom 01.02.2025)
https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/friedrichshafen/fuenf-jahre-corona-in-deutschland-die-pandemie-am-bodensee-und-in-oberschwaben-100.html
Doch die Paradigmen wechseln. Die Krankheiten auch. Gerade ist nämlich die Grippe auf dem Vormarsch. An manchen Orten erheblich. Und während die einen Journalisten eine Aufarbeitung des politischen Geschehens um Corona fordern, schreiben sie selbst oder andere Journalisten über die akute Grippewelle.
So weit, so routiniert. Aber: Achten Sie auf die Sprache. Corona hat dort Spuren und Muster hinterlassen. Der Blick auf die Grippe ist nämlich nicht mehr möglich ohne die Brille, mit der wir Corona gesehen und ertragen haben. Die Beschreibung der Grippe ist nicht mehr möglich ohne die Raster, die wir in der Corona-Pandemie gelernt haben.
In Mönchengladbach, so berichtet die Rheinische Post, ist die Zahl der Grippefälle binnen einer Woche um 40 Prozent gestiegen.
https://rp-online.de/nrw/staedte/moenchengladbach/grippewelle-in-moenchengladbach-influenza-faelle-steigen-in-einer-woche-um-40-prozent_aid-123617931
Und nun nimmt das Sprach-Karussell Fahrt auf: Die Autorin spricht von schweren Verläufen, sie nennt Inzidenzwerte (meidet dabei allerdings das Wort „Inzidenzwerte“ wohl mit Absicht), sie zitiert Sprecher der Kliniken, die wiederum über die Ungeimpften sprechen.
Lesen Sie den Text, Sie werden unweigerlich an die Corona-Berichterstattung erinnert. So, genau so, haben wir damals gesprochen, geschrieben, gelesen und gedacht. Oder wir wurden gelehrt, so zu denken und zu lesen und zu werten.
Keine Frage: Die Zahlen und Fakten zur Grippe in Mönchengladbach, über die die Autorin berichtet, werden stimmen. Und keine Frage: Wir würden ganz genauso reden. Über Inzidenzwerte und Ungeimpfte. Und über schwere Verläufe.
Doch: Das Substantiv „Ungeimpfte“, das ja doch assoziativ nahe am Schimpfwort platziert ist, hat es vor der Coronawelle gar nicht gegeben. Nur in der Theorie, denn wir können alle möglichen Worte bilden. Gesprochen und geschrieben haben wir vor Corona jedoch nie oder kaum über Ungeimpfte. Auch wenn jährlich die Grippewellen zu journalistischer Massenproduktion führten. Und auch wenn jährlich die Aufforderung, sich impfen zu lassen, an uns alle, besonders aber an die Menschen über 60 und an die Menschen mit Vorerkrankungen ging. Auch wenn innerhalb dieser Wellen wöchentlich der aktuelle Zahlenstand übermittelt wurde. Doch geschrieben wurde damals, vor Corona, nur über die Menschen, die sich nicht oder noch nicht haben impfen lassen.
Das Rechenmuster der Inzidenzzahlen aber, das ja vor Corona dasselbe war, hatte zu den Zeiten der jährlichen Grippewellen eine andere Konnotation. Jetzt, nach Corona, brauchen wir nur zu lesen, wie viele Menschen pro 100000 Einwohner erkrankt sind, schon sehen wir einen Inzidenzgraphen vor unseren Augen. Das ist nicht die Schuld der Journalistin. Auch nicht die Schuld der Presse. Schon gar nicht die Schuld der Sprache. Das ist eine Sache der Erinnerung. Wir alle tragen nach diesen fünf Jahren eine andere Brille und lesen und sehen dieselben Worte, Sätze und Bilder anders als vor fünf Jahren.
Doch zurück zu den Ungeimpften: Die könnten wir sprachlich wieder zurückdrehen. Damals, vor diesen fünf Jahren, die wir jetzt so feierlich erinnern, gab es nämlich tatsächlich immer nur die Aufforderung zur Impfung an uns, an die Menschen, Personen, Bürger oder wie wir auch immer uns bezeichnen wollen, die noch nicht geimpft sind.. Sofern wir einer gefährdeten Gruppe angehören. Immer mit dem Hinweis: Auch jetzt noch lohnt es sich.
Ja, das war der pädagogische Imperativ, der dem Journalismus und den Deutschen schon lange wesentlich ist. Wir sind halt gerne auch ein Volk von Besserwissern. Und genau deswegen: Wir wissen es doch wirklich besser: Wir sollten die Ungeimpften wieder als das benennen, was sie sind. Sie sind Menschen, die aus verschiedenen Gründen nicht geimpft sind. Auch das ist Erinnerungskultur – wenn wir die Erinnerung an die Ausgrenzung der Menschen, die zu Coronazeiten Sorge oder wirklich Furcht davor hatten, sich impfen zu lassen, nicht auf die Menschen übertragen, die eine Grippe-Impfung nicht, noch nicht oder grundsätzlich nicht hinter sich bringen wollen. Oder sie vergessen haben. Wer keine Grippeimpfung hat, ist nicht geimpft. So einfach ist das.
Das Schlagwort von der „Pandemie der Ungeimpften“ aber, das sollten wir auf die Liste der coronaren Unmöglichkeiten setzen. Sofort.
Hier weitere Artikel zur Grippewelle:
Rheinische Post:
01.02.2025 zur Grippewelle in Düsseldorf:
https://rp-online.de/nrw/staedte/duesseldorf/gesundheit/duesseldorf-mehr-grippe-faelle-macht-kliniken-und-praxen-zu-schaffen_aid-123503997
30.01.2025: zur Grippewelle in NRW:
https://rp-online.de/leben/gesundheit/nrw-grippewelle-rollt-mehr-als-5000-faelle-in-einer-woche_aid-123615269
BR, 02.02.2025 über Grippe und Influenza in Bayern:
https://www.br.de/nachrichten/bayern/krankheitswelle-in-bayern-wie-sich-influenza-rsv-und-corona-ausbreiten,UbNdgOs
Die Augsburger Allgemeine am 02.02.2025 über die Grippewelle, die dort vor allem die Kinder trifft:
https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/grippe-welle-trifft-acht-millionen-menschen-in-deutschland-104937313
Auch der MDR berichtet über den Anstieg der Influenzazahlen besonders bei Kindern. 31.01.2025:
https://www.mdr.de/wissen/medizin-gesundheit/influenza-grippe-welle-rollt-erkrankungen-in-allen-altersgruppen-100.html
Die Tagesschau am 31.01.2025:
https://www.tagesschau.de/inland/atemwegserkrankung-grippe-100.html