Nachtrag zum Artikel vom 08.12.2021:

Der Familienvater, der in Königs Wusterhausen erst seine ganze Familie und dann sich selbst das Leben nahm, bietet heute Anlass zu Recherche, Spekulation und Interpretation. Die Medien sind voll mit Nachrichten, der Stil: Der Mann hat sich im Internet radikalisiert. Ich frage mich schon seit Jahren, wie man sich radikalisieren kann - denn ganz von allein geschieht das nicht. Zu diesem Familienvater gibt es nun Hinweise, dass er Impfausweise in großem Stil gefälscht habe, dass er dem Arzt Bodo Schiffmann interessiert gefolgt sei - und dass er in einem Messenger-Dienst geäußert habe, er habe sich eine Gürtelrose zugezogen, weil er mit einem Geimpften Kontakt gehabt habe. Sicher: Radikal ist das alles. Verzweifelt auch.

Linksammlung folgt später.

Artikel, 08.12.2021:

Der ältere Herr begegnete mir auf dem Parkplatz des Supermarktes. Er kam, ich ging – und lächelnd bot ich ihm meinen Einkaufswagen an. Denn einkaufen geht ja nicht mehr ohne. Lächelnd lehnte der Mann mein Angebot ab, das ihm Schritte und Anstrengung gespart hätte. Er nehme sich lieber einen anderen Wagen.

Die Szene war so eigenartig, dass ich gar nicht in Versuchung kam, beleidigt zu sein. Es war das möglicherweise am Griff meines Einkaufswagen haftende Coronavirus, das ich dort hinterlassen haben könnte, das den Mann auf Abstand bleiben ließ. Doch damit war ihm ja gar nicht geholfen. Denn das an dem Einkaufswagen meines Vorgängers klebende Coronavirus, das schon in der Schlange der Einkaufswagen eingeparkt wurde, war mutmaßlich in der einen Minute, die es länger am Griff weilte als das Virus an meinem Wagen, noch gar nicht abgestorben. (Und für die Übergabe des Wagens wären wir uns höchstens auf 1,5 Meter nahe gekommen.)

Doch nicht nur diese Zurückweisung ist eigenartig. Nur fällt uns die Absurdität der ganzen Situation gar nicht mehr auf: Wie selbstverständlich nehmen wir alle einen Einkaufwagen zum Einkaufen mit in den Supermarkt. Auch, wenn wir nur die Zeitung oder Zigaretten holen wollen. Denn der Einkaufswagen soll öffentlich davon Zeugnis geben, dass wir mindestens 1,5 Meter Abstand zu den anderen Kunden halten werden.

Das klappt hervorragend. Denn das Wichtigste in unübersichtlichen Situationen sind Regeln. Und so ist die Einkaufswagenregel vielleicht viel mehr wert, als sie eigentlich wert ist. Der Abstand ist die eine Sache – die gefühlte Sicherheit die andere.

Und der ältere Herr? Da war gar keine gefühlte Sicherheit in seinen Augen. Der ältere Herr war die gelebte Verunsicherung, die aus Gewohnheit aufrecht geht.

Ich erzähle Ihnen diese Anekdote nicht, weil dieser ältere Mann so außerordentlich seltsam war. Ich erzähle Ihnen diese Anekdote, weil er so ist, wie die meisten von uns.

Da gibt es die Kollegin, die ausgebildete Altenpflegerin ist. Mit Ansteckungsgefahren kennt sie sich bestens aus und einen Hygienefimmel hatte sie quasi berufsbedingt schon immer mit nach Hause gebracht. Seit Corona-Beginn regiert sie die Familie mit harter Hand. Wer erkältet ist, gehört aufs Zimmer. Heißt: nach oben, Familienanschluss gestrichen. Tee wird ans Bett gebracht. Für Besucher hieß das lange: Eintritt nur mit Maske, aber lieber gar nicht. Und vor der Haustür der Großeltern war sie genauso lange der Drache der Feuer spuckt, wenn man verbotenerweiße die ungezogenen Linien zu überschreiten auch nur überlegte.

Da gibt es die ungeimpfte Freundin, die schon vor Monaten wusste, dass alle ihr aus dem Weg gehen werden und keiner sie mehr liebt. Sie hat recht behalten. Es gibt niemanden mehr, der sie überhaupt noch besucht. Und sie besucht auch nichts und niemanden mehr außer den Supermarkt. Das liegt auch, aber nicht nur an der ihr fehlenden Impfung und der uns so gepredigten Ansteckungsgefahr. Es liegt auch und vor allem an ihr: Wir kennen die Inhalte der Videos, denen sie mehr vertraut als der Tagesszeitung, quasi schon vorab. Sie sind vorhersagbar, unsäglich und unschlagbar.

Da gibt es den Menschen, der seine Schizophrenie medikamentös im Griff hatte. Selbst vom Fach war er sich selbst auch lange ein guter Berater. Mittlerweile hört er zwar keine Stimmen, aber er lässt sich von Meinungen und Ansichten leiten, die früher seine nicht gewesen wären. Jetzt ist dieser Mann auf der Flucht. Vor der Impfung und vor der Weltverschwörung. Und wenn er nicht auf der Flucht ist, dann dreht er einen Film. Als Film nämlich ist das Leben leichter.

Da gibt es die Freundin, die immer eine gute Ausrede hatte, um private Treffen zu vermeiden. Sie lebt halt gerne geschützt in ihren vier Wänden. Denn die anderen Menschen sind irgendwie schon sehr anders und manchmal auch beängstigend. Dann und wann aber kam sie dennoch zum Kaffee oder zum Wein, und das sogar gerne. Ich muss Ihnen wahrscheinlich gar nicht mehr sagen, wie lange ich dieser Freundin nicht mehr in einem geschlossenen Raum begegnet bin.

Von diesen Menschen, die sich zurückziehen und nicht mal mehr Kaffee oder Bratwurst im Garten an der frischen Luft zu teilen bereit sind, kenne ich noch mehr.

Das ist nicht das Ende meiner Liste. Dieser Text wäre tatsächlich bedeutend kürzer ausgefallen, wenn ich Ihnen hätte aufzählen wollen, wer aus meinem Umfeld sich noch vollkommen normal verhält. Ich glaube, diese Liste würde mit einer guten Freundin beginnen und enden. Susanne heißt sie.

Das ist Alltag. Ihrer gewiss wie meiner. Es gibt nur noch einen guten Freund. Wenn überhaupt. Und vielleicht sind Sie ja selbst auch froh, dass Sie nicht mehr jedem die Hand geben müssen, dass Sie nicht mehr auf einen Kaffee bei der Nachbarin reinspringen müssen, dass Sie sich die Schwiegermutter vom Hals halten können. Abstand hat ja auch Vorteile.

Über diesen Alltag kann man sich lustig machen, kann man schimpfen, kann man sich freuen oder ärgern. Viel von diesem Alltag beruht aber auf uns und unseren Ängsten, die wir uns nicht eingestehen. Da kommen die Corona-Regeln gerade recht. Denn so brauchen wir uns diese Ängste auch gar nicht erst einzugestehen, geschweige denn, im Zaum zu halten versuchen. Wir halten Abstand, weil wir müssen. Und nach fast zwei Jahren Corona biete auch ich sicherheitshalber meinen Einkaufswagen niemanden mehr an.

Und warum erzähle ich Ihnen das alles? Weil wir jetzt schleunigst anfangen müssen, uns trotz Corona-Regeln wieder daran zu erinnern, dass wir Menschen sind, die einander lieben, auch hassen, die aufeinander zu gehen, die miteinander umgehen und die auch den Dreh finden werden, trotz Abstand einander nahe zu kommen. Im Zweifel ist der andere, der Nachbar, der Freund, der Kollege, die Verkäuferin, die Ärztin. die Busfahrerin auch völlig verunsichert.

In Senzig, Königs Wusterhausen, hat ein 40-jähriger Familienvater mutmaßlich seine Frau, seine drei Kinder und sich umgebracht, weil er seiner Frau ein Impfzertifikat gefälscht hatte – und damit aufgeflogen war. Nun fürchtete er, man könne ihnen die Kinder wegnehmen. Denn auf das Fälschen von Impfzertifikaten steht seit kurzer Zeit im schlimmsten Fall Gefängnis.

An Erklärungen und Erklärungsversuchen für diese drastisch übersteigerte Reaktion mangelt es in den Medien nicht, und Zweifel lassen sich kaum begründen: Der Mann war gewiss psychisch krank und seine Sorge gewiss maßlos übertrieben.

(Den Bericht über die Familie finden Sie an vielen Stellen, auch am 07.12.2021 in der ZEIT.)
https://www.zeit.de/news/2021-12/07/fuenf-tote-in-brandenburg-familienvater-hatte-angst?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F

Trotzdem, nein, gerade deswegen: Lassen Sie uns wieder wie echte Menschen einander begegnen. Das geht bestimmt auch mit Abstand. Der Gesten und Möglichkeiten, sich zu kümmern, sind ja viele. Und es sind die kleinen Begegnungen im Alltag, die uns alle aufrecht halten.

Die Anekdote, die ich Ihnen noch nicht erzählt habe: Es war ein regnerischer Novembertag. Eine Einkaufsstraße in meiner Wohngegend, in der es mal eine Maskenpflicht gegeben hatte. Nun ist die Maskenpflicht aufgehoben, aber die Maskerade beginnt gerade freiwillig von vorn. Wogegen nichts zu sagen ist. Außer: Die Menschen hinter der Maske wissen, dass man sie nicht erkennt. Und das ist ungemein praktisch. Auf einer Strecke von etwa 1000 Schritten begegneten mir drei entferntere Bekannte, die mich früher, das heißt vor Corona, alle gegrüßt hätten. Und bei mindestens zweien hätte sich ein Zehn-Minuten-Plausch ergeben. Nach dem Motto: Na, wie geht’s denn so? Was machen die Kinder? Ach, alle schon aus dem Haus ....

Nun, mit Maske, November, Nieselregen, Nebel, Dunkelheit, Eile, Abstandsgebot, schlechte Laune, ich ja auch – wir eilten wie blind aneinander vorbei und taten beidseitig so, als würden wir uns nicht erkennen.

Das spart ja auch Zeit.

Es wird Zeit, dass wir uns ändern.