Wahrscheinlich ist es nicht nur Historikern aufgefallen: Die Welt ist im Wandel. Und Deutschland wandelt mit. Schön, wenn einem dabei Historiker zur Seite stehen, die in Worte fassen, was man auch schon bemerkt hat. Das meine ich gar nicht so salopp, wie sich’s anhört. Manchmal ist das Zur-Sprache-Bringen genau das, was einem selbst noch nicht gelungen ist. Zumindest nicht so gut oder nicht so genau.

Gut, auch dass die Bedeutung der Kirchen abnimmt, ist nicht nur Historikern aufgefallen. Aber jetzt zum Punkt: Burkhart Ewert interviewt heute (15.05.2021) in der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ) die Historikerin Eva Schlotheuber. (Alle Links am Textende). Schlotheuber ist 1. Vorsitzende des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands. Und im Interview tanzen Schlotheuber und Ewert fragend und antwortend um die Drehachsen gesellschaftlicher Veränderung. Die Aspekte:

1. Generationengerechtigkeit
2. Klimawandel
3. Wissenschaft, Bildung, Geschichtsunterricht, als Spiegel der Selbsterkenntnis der Gesellschaft
4. Coronakrise
5. Adel, Klerus – Stände

Vielleicht kommt gar nicht so viel Neues in diesem Interview zur Sprache – doch das Interview ist deutungs- und bedeutungssetzend. Die letzte große Anpassung der Gesellschaft geschah, so Schlotheuber, 1968. Klar, auch das hätten wir gewusst. Aber wir haben’s noch nicht im Zusammenhang mit der Pandemie gesagt. Zumindest nicht so.

Zwischendurch gibt’s zu den genannten Punkten noch Einblicke in die Rolle des Adels bzw. in Konflikte zwischen der Historikerin und den Hohenzollern – zum Beispiel. Vom Adel ist es dann nicht weit zum Klerus, und von da aus nicht weit bis zur Erkenntnis, dass ausgerechnet in einer Zeit der Sinnsuche die Kirchen ganz hinten stehen. Heute gebe es andere Propheten. Christian Drosten sei einer von ihnen.

So weit, so gut. Und da die NOZ immer schon vorne mit dabei war, wenn es galt, den Wandel der Zeit zu begreifen – und Bedeutung auch aktiv zu setzen, ein kleiner Ausblick auf die Wirkung dieses Interviews: Die katholische Nachrichtenagentur (kna) berichtet, das Kölner Domradio übernimmt den Bericht und zitiert am Ende des Artikels quasi als Plot Schlotheuber wie folgt:

„Die Kirche spielte hier keine wesentliche Rolle, aber die Sehnsucht nach Erklärung wurde auf andere Akteure projiziert – ein Christian Drosten als Prophet, wenn man so will.“
(Domradio, 15.05.2021):
https://www.domradio.de/themen/glaube/2021-05-15/kirchen-spielen-keine-wesentliche-rolle-historikerin-christian-drosten-deutet-krise-staerker-als

Doch den allerletzten Satz der Historikerin haben Domradio und/oder kna unterschlagen. In der NOZ endet das Interview nämlich so:

„Allerdings bietet Kirche ja doch mehr. Die philosophische Tiefe macht sie aus, und dass sie Rückzugsraum für Gedanken und Gefühle, Stille und Kraft ist. Das lässt sich so schnell nicht ersetzen.“
https://www.noz.de/deutschland-welt/politik/artikel/2310517/historiker-vorsitzende-deutschland-erlebt-wandel-wie-1968-3

Zählen Sie mich jetzt ruhig zu den Kichererbsenzählern oder den Korinthen-Sie-wissen-schon, aber: Mir kommt es reichlich eigenartig vor, dass kna und/oder Domradio diese Steilvorlage, die ja existenzbegründend ist, einfach so links liegen lassen. Wenn ich, die ich Geschichte nur im Nebenfach studiert habe, mich nun deutend, vielleicht sogar bedeutend hier einlassen darf, möchte ich zu bedenken geben, dass es mir scheint, die Kirche hätte tatsächlich viel an Tiefe usw. zu bieten, wenn sie nicht gerade den Glauben an sich selbst vollkommen verloren hätte. Mir scheint da in der Kirche eine tiefe Sehnsucht nach Untergang mit am Werke zu sein. Oder wie sonst ist es zu erklären, dass Schlotheuber positiver endet, als die Berichterstatter auf Seiten der Kirche?

Linksammlung zum Überblick: